Donnerstag, 1. Juli 2010

Der Körper: Schönheit und Ex-Opfer

1 Verschönerung ist das Gegenteil von Schönheit und nicht ihr Superlativ.
1.1 Für Verschönerung muss man sich für verschönerbar halten, also hässlich finden.
1.2 Je mehr man an Verschönerung glaubt, desto mehr glaubt man tun zu müssen, um zur Schönheit zu gelangen – aber so kommt man niemals bei ihr an.
1.3 Auch die Schönheit eines Objektes „an sich“ im willenlosen Anschauen (z.B. Sonnenuntergang) ist noch Verschönerung, weil man sich selbst noch nicht als Maß aller Schönheit erkannt hat.
1.4 Wenn man sich jedoch als wollendes, schaffendes, unsteigerbar schönes Lebewesen auf die Welt einlässt und sich unbedingt angehen lässt, wird man viele unsteigerbar schöne und großartige Dinge erleben.
1.5 Wer sich selbst für die Welt öffnet, der gewinnt seine persönliche Freiheit aus der Nähe zu seinen Mitmenschen, der verschenkt umsonst Freiheit, wie er sie zuvor umsonst erhalten hat, der hat unheimlich viel Liebe zu geben, der vergibt und bereut, der versöhnt die Menschen und würdigt jeden Moment als Höhepunkt des Lebens.
1.6 Wer für sich die Liebe mit handelnden Händen entdeckt hat, der setzt immer wieder neu einen neuen, unverbrauchten Anfang, der macht, dass jeder Tag zum ersten Tag der Schöpfung wird.
1.7 Wir bewundern Kinder und halten alle ihre Spiele für lebendig und höchst angemessen, und wir brauchen das Kind in uns selbst dabei nicht vergessen oder verleugnen.
1.8 Wer sich nämlich laufen und rennen lässt, dem werden alle seine Handlungen und Erfahrungen als so schön und so reich erscheinen, dass er sich damit allen möglichen Drogen und Verschönerungen uneinholbar überlegen weiß und abends aus besseren Gründen totmüde ins Bett fällt.
1.9 Der Körper, als eine Vorfreude auf höhere Freude, als ein Vorgriff des Lebens auf den Wald des Warmen Regens schon in dieser zivilisierten Welt, ist: Klettern auf einen Baum, Schwimmen in einem See, Buddeln am Strand, Barfuß-Rennen auf einer Wiese, Purzelbäume machen, Bergsteigen, Spazierengehen in der Mittagshitze oder in der Dämmerung, Früchte pflücken, Trinken aus einem Bach, Sex haben
2 Aus Opfern werden Ex-Opfer.
2.1 Durch meinen Blick auf meine letzte Abhängigkeit und Endlichkeit bekomme ich den Hang, die Wirklichkeit endgültig mit meiner Denkbarkeit und Wünschbarkeit zu rechtfertigen.
2.2 So sehr ich aber auch mein Leben bejahen will und sogar kann, so sehr bejahe ich doch nur meinen Ja-Nein-Dualismus, meine zuerst überwundene und dann vielleicht mit eigenen Gründen wieder eingeführte Moral, mein gutes Gewissen – und zwar unabhängig vom Inhalt.
2.3 Auch all das, was der Himmel (auf Erden) jemals sein kann, was Gott jemals für den Menschen tun kann, womit Gott den Menschen jemals angehen kann, kann nur anfanghaft Inhalt des Lebens und Schönheit des Körpers vollbringen.
2.4 Denn da jede mögliche Kultur auf eine gewisse Weise immer Opferung und Zurückstellen der eigenen Schönheit und Lebendigkeit und Körperlichkeit bedeutet, bekommt das Leben Inhalt und Schönheit in vollem Maße genau dann wieder, wenn das gute Gewissen und alle Kultur überwunden sind.
2.5 Zwar gab es noch nie ein kulturloses Lebewesen, nicht einmal ein Tier, aber dennoch ist Kultur nur eine kontingente Eigenschaft des Lebens.
2.6 Im Überschwang der vorwegnehmenden Vorfreude schafft man nach und nach die physischen Elemente der Kultur ab, so dass die Menschen immer mehr zum Leben herausgefordert und gefördert werden und die leiblichsten Menschen leben werden.
2.7 Als Konsequenz daraus verschwindet auch noch die Kultur im Kopf, das gute Gewissen, der Zwang zur Bejahung, der Glaube an die eigene Sterblichkeit, überhaupt das Denken, weil das nun entdeckte Leben so reich ist, dass sich das Denken durch sich selbst obsolet gemacht hat, indem es sich von seinem gewünschten Inhalt hat einholen und überholen lassen.
2.8 Damit löst sich endlich die Paradoxie der Frage nach der Würdigung des Körpers, denn der Körper ist: Nicht „res extensa“, nicht "durch die Seele geformter Leib", nicht "possession" (= nicht "mein Körper"), nicht „die Gene“, nicht "die Triebe", nicht "die Sinne", nicht "die Organe", nicht "Ästhetik", nicht „Fitness“, nicht "Hülle" - sondern im Wald des Warmen Regens ist der Körper als das perpetuum mobile des Lebens die unüberholbar maximale (superlativische), nicht mehr selbstvernichtende, nicht mehr selbsterniedrigende, lebendige Vereinigung von Willigkeit und Möglichkeit und Fähigkeit.
2.9 Wald des Warmen Regens, äquatorialer Regenwald, Tageszeitenklima, Essen, Trinken, Laufen, Rennen, Springen, Klettern und Schlafen
3 Solange der Wald des Warmen Regens eine Anschauung, ein Ideal bleibt, so ist er einerseits Vorfreude, Antriebskraft, Hoffnung auf Steigerung der Vitalität schon in dieser Welt sowie kritisches Korrektiv zur Kultur, andererseits aber auch die radikalste Form der Kultivierung, der Selbstopferung, der Entkörperlichung, der Verschönerung, und als Teil meines guten Gewissens Denken par excellence.

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