Dienstag, 9. Februar 2010

Von den des Lebens Müden

Ich kam in eine Stadt und lief allzuvielen Menschen über den Weg. Den Weg eines Menschen kreuzte ich aber ganz besonders. Denn dieser fragte mich doch im Vorbeigehen, ob ich ihm mal Feuer für seine Zigarette geben könnte. Ich wollte schon den Kopf schütteln, aber mein Geist war zu wach, um einfach an ihm vorüber zu gehen. Daher ging ich ihn energisch an, meine rechte Hand packte ihn mit starkem Griff am Hals und ich sprach zu ihm:

 

Fürchte dich nicht! Du hast nicht gesündigt, sondern dies geschieht, damit offenbar werden die Werke Gottes an dir!

Der Tod Gottes ist noch nicht überwunden; deshalb kann ich nicht schweigen in Dummheit und daher bin auch ich nicht gekommen um Frieden zu bringen, sondern das Schwert!

Ich schütte keine Kontingenzen zu, sondern ich mache sie erst wieder richtig auf. Denn wo es Gründe gibt – sollte es da nicht noch tiefere Abgründe geben?

Siehe, ich, Vergewaltiger des Widerspruchs, stehe hier zum Fall und Aufstehen vieler auf Erden und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird – aber auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen – damit Überlegungen aus vielen Herzen offenbar werden.

Du willst womöglich – und es gibt kein tolleres „womöglich“ – das Leiden abschaffen? -- Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt: zu einem angenehmen Sterben. Nicht-mehr-wollen und Nicht-mehr-schätzen und Nicht-mehr-schaffen! Den Schluss ziehen, aber sich vom Schluss nicht ziehen lassen! Der große Überdruss am Menschen - der würgt dich wohl und ist dir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: ‘Alle sind gleich, Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn, es hilft kein Suchen, Wissen würgt. Woran man nie gedacht hat, das braucht man nicht vergessen.’ Ach, dass diese große Müdigkeit mir stets ferne bleibe! -- Und ich? – es scheint gerade, ich will das Leiden noch höher und schlimmer haben, als je es war. Wohlbefinden, wie du es verstehst – das ist ja kein Ziel, das scheint mir ein Ende! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht, - der deinen Untergang wünschen macht!

Und darum sollst du deine Tugenden so sehr lieben, dass du an ihnen zu Grunde gehst.

Wer sich kein Ziel und keinen Anfang setzen kann, der soll sich wenigstens noch ein Ende setzen. Oder um es wahrer zu sagen: Wer sich kein Ziel setzen kann, dem will ich wenigstens ein Ende setzen.

Denn Leiden war’s und Unvermögen, das schuf alle Hinterwelten und Schwachsinnigkeiten und Perversionen: und jener kurze Wahnsinn des Glücks, den nur der Leidendste erfährt.

Was ist der Alkoholabhängige für den Nüchternen? Was ist der Stammelnde für den Possenreißer? Was ist der Elegante für den Schätzenden? Was ist der Vermittelnde für den Unvermittelten? Was ist der Verehrende für den Unaussprechlichen? Was sind der Andere und der Gleich-Gültige für den All-Einen? Ja, was ist der letzte - der einfachste und zugleich vollste - Mensch für den Übermenschen? - Ein Gelächter und eine schmerzliche Scham!

 

Sichtlich schockiert und mitgenommen von diesen Worten, wollte er seine Zigarette, welche immer noch nicht brannte, zum Mund führen. Seine Anspannung war ihm anzusehen. Ich sagte ihm: Wenn ich dir jetzt Feuer gebe und du diese Zigarette rauchst, wirst du sterben. Er jedoch erwiderte kleinlaut: Das geht mich nichts an. Denn sterben muss ich doch eines Tages sowieso. Deshalb fügte ich folgendes an:

 

Siehe, es kommt die Stunde und sie ist schon gekommen, wo du dich von Gott, von der Welt und beinahe auch von dir selbst verlassen fühlst. Aber versteht man mich? Es ist der Glaube - und es sind trotzdem auch die Werke! Denn die größten Gedanken sind die größten Ereignisse. In der Welt bist du in Bedrängnis; aber sei guten Mutes, du wirst die Wirklichkeit mit deiner Denkbarkeit und Wünschbarkeit rechtfertigen.

Weiter sagte ich: Und nun zeige ich dir, wie man jemanden in 90Sekunden rauchfrei macht. Ich drückte meine Hand an seinem Hals noch stärker zu und hob ihn daran in die Höhe. Seine Augen waren nun weit aufgerissen und ich sprach:

 

Und gleichwie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte und gleichwie Jesus am Kreuz erhöht wurde, so musst nun auch du erhöht werden, damit du, wenn du an dich glaubst, ewiges Leben hast. So wird dein Messias einer sein, der – sich selbst im Spiegel betrachtend – vom Kreuz herabsteigt und die Auferstehung weder nötig noch möglich hat und macht.

Dies ist das Werk Gottes, damit du an den glaubst, den er gesandt hat.

Denn Gott hat dich nicht in die Welt gesandt, damit du dich selbst zu Grunde richtest.

Wer an sich glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, weil er nicht an seine unendliche Wichtigkeit geglaubt hat. Denn wer sich nicht von Unbedingtem und Bedingtem angehen und in Anspruch nehmen lässt – wie könnte der sich selbst in Anspruch nehmen?

Du wirst gehorchen, irgendwem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst.

Glaubst du nicht, so bleibst du nicht. (Ver-)traust du nicht, so bleibst du nicht betraut/betreut.

Wenn du an dich glaubst, hast du ewiges Leben; wenn du dir selbst nicht gehorchst, wirst du das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes, Wahn und Willkür und der Hang zur Selbstvernichtigung, bleibt auf dir.

Ich gönne euch euren Spaß nicht; ich treibe einen Keil zwischen euch; ohne mich kann man besser leben als mit mir: mein Name ist Wahrheit!

Geh ein durch die Pforte! Denn weit ist die Pforte und breit der Weg, der ins Verderben führt; und die Vielen sind es, die da hineingehen. Denn eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt; und die Alleinigen sind es, die ihn finden und erfinden.

Du bist die Tür; versetz dich nur in dich selbst hinein; denn du bist deine eigene und einzige Welt, deine eigene und einzige Menschheit; wenn jemand durch und in sich eingeht, so wird er errettet werden.

Lasst uns übermenschlich wandeln wie am Lebensmorgen, nicht durch Rauchen und Saufen – wer den Kick sucht, auf den trete ich gerne ein; noch bevor du die Drogen einnimmst, haben sie dich bereits eingenommen: „Verstand“ gegen Verstand  –, nicht durch Schmücken und Schminken – wäre das nicht „Schönheit“ gegen Schönheit? –, nicht durch Konsum und Party – Unterhaltung ist die der des Lebens Müden beste Untenhaltung –, nicht durch Umwelt-schutz und Vegetarismus – man sollte sie aufessen -, nicht durch Homo- und Bisexualität – sie sterben einfach nicht aus -, nicht durch Haare färben oder durch Schuhe, in denen man besser sitzen als rennen kann und die den Menschen im Sinne einer verschärften Selbst-domestikation erhöhen wollen und ihn stattdessen nur weiter erniedrigen, sondern zieht den Übermenschen an und verherrlicht gleichzeitig nicht die Lebensbedingungen als Lebensziele.

Was läge an solchem Glücke! Es ist Armut und Schmutz und ein erbärmliches Behagen. Aber dein Glück sollte das Dasein selber rechtfertigen!

Und tust du mir mit solchen säkularisierten Leibfeindlichkeiten auch Übles, so spreche ich: "ich vergebe dir, was du mir tatest; dass du es aber dir tatest, - wie könnte ich das vergeben!''

Wenn du mich also immer noch fragst, warum ich dich nicht einfach so akzeptiere, wie du bist, dann werde ich dir antworten: Akzeptiere du dich lieber genau so, wie du bist, so dass sich deine vermeintliche Selbstliebe nicht schlussendlich als Selbsthass entpuppen kann. Man kann besser die Schminke oder den Herd vergessen – als sich selbst. Selig ist, wer an sich keinen Anstoß nimmt.

Denn du und ich sind dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass wir für die Wahrheit Zeugnis ablegen. Manchmal meinte ich zu lügen, und siehe! da erst traf ich - die Wahrheit. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf seine Stimme. Denn wer sich selbst nicht glaubt, der lügt immer.

Doch auch ich bin nicht in die Welt gekommen, dass ich die Welt richte, sondern damit sie durch mich errettet werde.

 

Nach dieser sichtlich langen Zeit – er war kaum mehr fähig zuzuhören und tat es doch –, setzte ich ihn wieder zurück auf den Boden der neuen Tatsachen. Dabei umarmte ich ihn, den Bekehrten, den Umleuchteten, welcher lachte und nun deutlich zu stark schien um zu sterben. Ich guckte ihm tief in seine immer noch schockierten Augen und sprach:

 

Vom Hörensagen hattest du von dir gehört, jetzt aber hat dein Auge dich gesehen.

Wenn wir uns auf dem Spielplatz des Lebens wiedersehen, werde ich sagen: Siehe, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nichts Ärgeres widerfahre.

 

Ich bot ihm noch an, seine Zigarette zu entzünden, er aber schnappte immer noch so sehr nach Luft und Leben, dass er dankend ablehnte und mich torkelnd verließ. – – Ich hörte am nächsten Tag, dass es am nahe gelegenen Bahnübergang einen Toten gegeben haben sollte und erfuhr, dass es kein Geringerer war als mein Schocktherapierter. Heimlich sagte ich mir: Er zog am Leben vorbei, da traf er den Tod. Mich selbst korrigierend fuhr ich jedoch fort: Das Leben zog an ihm vorbei, da traf ihn der Tod. Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn: ein Possenreißer kann ihm zum Verhängnis werden. Es gibt keine Erlösung für den, der an sich selber leidet, es sei denn der schnelle Tod. Meine Lebensrettung ist die Rettung des Lebens, nicht der letzten Menschen. So verstehe ich das Sprichwort: Die Letzten werden die Ersten sein. Ich lachte von ganzem Herzen und von ganzem Verstand. Und obwohl ich es mir kaum verzeihen konnte, dass ich mein einziges Mitleid dafür empfand, dass ich ihn nicht selbst zur Strecke gebracht hatte, wurde meine gute Laune nicht getrübt: Mein Feuer hat ihm zuerst einen Weltenbrand entfacht, auf dass die Erde nun beginnt, sich vor mir zu rechtfertigen. Denn auch so war der Übergang sein Untergang.

 

Allso sprach ich.

 

 

 

Ergänzung: Du nennst ideal, was dir widerspricht und wehe tut; und nicht anders weißt du dich selbst zu lieben, als indem du dich selbst vergewaltigst. Erlöster müssten mir alle Raucher und Trinker und Models und Vegetarier und Homosexuellen aussehen, als dass ich an ihre Art der Erlösung glauben lernte. Wahrlich, noch erlöster aber müssten mir alle diejenigen aussehen, die anders handeln.

Ergänzung: Ebenso nicht durch Karten – Karten spielen, Karten legen, Karten schreiben, (Land-)Karten lesen: alle vier nur Varianten der einen Vereindimensionalisierung der Wirklichkeit –, auch nicht durch Musik und Religion – über den heilig-willkürlichen Grundton des Lebens lässt sich keine höhere Melodie spannen –, und auch nicht durch Sport – in einer Welt der zementierten versiegelten Kulturlandschaften wird Stillsitzen belohnt und Bewegung zum ausnahmslosen Ausgleich.

Ergänzung: Schlussendlich auch nicht durch das Internet – durch die Einverleibung alles menschlichen Gewissens in der entmenscht-austauschbaren Unzeitigkeit, ist es nach der Ablösung der Sprache durch das Geld deren Nachfolger und logische Konsequenz, folglich die schärfste, nicht mehr zu übertreffende Form der Selbst-Domestikation, und die Menschheitsgeschichte ist zu Ende, wenn der vorletzte Schluss gezogen wird: „Das Internet um seiner selbst willen!“

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